Kritik der Relationen

Das Denken in Relationen hat derzeit Konjunktur. Vor allem in den zeitgenössischen Sozial- und Geisteswissenschaften bilden Relationen einen zentralen begrifflichen, analytischen und methodischen Zugriff, durch den nicht zuletzt theoriepolitische Standpunkte jenseits klassisch-westlicher Ontologien eingenommen werden. Die Hinwendung zu Beziehungen, Verhältnissen und Relationierungen folgt dabei dem Anspruch, sowohl Essentialismen als auch anthropozentrischen Verkürzungen kritisch zu begegnen. Der Einsatz der Medienanthropologie ist es, in diesem Kontext insbesondere Verschränkungsweisen von Menschen und Medien in den Blick zu nehmen. Hierbei ist Grundannahme, dass die Relationen ihre jeweiligen Relata erst hervorbringen. Die Dezentrierung oder Durchstreichung eines der Welt entrückten, souveränen anthropos sowie jener Exzeptionalismen, die mit der Bemühung dieser Figur traditionellerweise einhergehen, markieren in diesem Zusammenhang einen zentralen Aspekt medienanthropologischen Denkens. Gleichzeitig bietet die Fokussierung auf Vermitteltheit und Medialisierung auch Übergänge zu anderen relationalistischen Ansätzen, wie etwa Prozessphilosophien, der Akteur-Netzwerk-Theorie und Neuen Materialismen. Mit der Verabschiedung des Menschen geht unterdessen auch die Abkehr von einem primordialen und selbstidentischen Subjekt einher. Stattdessen findet in relationalen Denkansätzen eine Hinwendung zu hybriden Existenzweisen und transversalen Gefügen statt. An die Stelle von Intentionalität und Transzendenz eines menschlichen Subjekts treten in relationalen Denkansätzen Immanenz und Situiertheit der wahrnehmenden, wissenden und handelnden Entitäten. Dabei werden klassische Theoreme der Präsenz und Unmittelbarkeit vor dem Hintergrund prozessualer Vermittlungsvorgänge neu hinterfragt.

Während es einerseits unbenommen ist, dass die Überführung ins Relationale als Kritik an einem essentialistischen Denken fungiert, stellt sich zugleich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Kritik innerhalb der oben skizzierten Neuausrichtung. Denn im kritischen Impetus gegen die urteilende und Werte setzende Instanz des Subjekts und in der Fokussierung auf zeitbasierte Verstrickungen menschlicher, technischer und weiterer Akteur_innen wird nicht nur Kritik an den zentralen Epistemen eines ‘weißen Humanismus’ geübt, sondern es kollabieren auch althergebrachte Grundfiguren kritischen Denkens und Handelns. Bis in Foucaults Machtanalytik hinein wurden Subjekte zwar als Gegenstand von Mächten begriffen, die es zu kritisieren galt, zugleich blieb das Subjekt aber auch Akteur_in und Informant_in kritischer Verfahren. Nicht zuletzt in der (subjektiv umzusetzenden) Distanzierung wurde das politische oder ethische Potenzial, Kritik zu üben und produktive Desintegration zu betreiben, verortet. Somit eröffnet sich angesichts des Paradigmenwechsels hin zu einer Vorgängigkeit von Immanenz und Relationalität die Frage, wie Kritik noch möglich sein kann, wenn eine solche Distanznahme sowohl theoretisch als auch praktisch eingeklammert oder gänzlich getilgt wird. Als Konsequenz der Destabilisierung von Kategorien wie Mensch, Subjekt oder Selbst müssen neue Orte, Positionen, Existenzweisen und Praktiken von Kritik in den Fokus genommen werden – wenn nicht sogar die Möglichkeitsbedingungen derselben.

Ausgehend von diesen Überlegungen wählt der Workshop unter dem Titel “Kritik der Relationen // aus medienanthropologischer Perspektive” zwei Zugänge zum Themenfeld: Einerseits geht es um die Möglichkeit von Kritik durch, andererseits um eine kritische Befragung der relationalen Denkansätze. Ebenso wie mit dem kritischen Potenzial, das relationale Theorie-Projekte wie die Medienanthropologie bergen, möchten wir uns gemeinsam mit den Teilnehmer_innen des Workshops damit befassen, wie kritisches Denken und Handeln innerhalb relationaler Ontologien und unhintergehbarer Immanenz unter Druck geraten und wie sie neu gefasst werden könnten. Fragen, die sich aus dieser zweifachen Problematisierung ergeben, lauten demnach: Welcher Kritikbegriff ist im Kontext eines relationalen Denkens noch haltbar? Welche Ideen von Kritik werden affirmiert oder verabschiedet, aktualisiert oder implizit mitgeführt? Wie lässt sich Kritik aus der Immanenz heraus konzipieren, praktizieren und denken? Was sind konkrete Szenen, Akteur_innen und Aktanten, Medien und Materialitäten sowie Milieus für relationale Kritik?

Wir möchten Wissenschaftler_innen aller akademischer Qualifizierungsphasen und mit verschiedenen theoretischen Hintergründen einladen, einen Beitrag zum Thema “Kritik der Relationen” einzureichen. Mögliche Felder, aus denen heraus Fragestellungen konzipiert und verhandelt werden können, sind neben der Medienwissenschaft beispielsweise Ästhetik, Politische Theorie, Cultural Studies, Soziologie, Ökologie, Anthropologie, Philosophie und verwandte Bereiche. Auch Einreichungen, die über das sozial- und geisteswissenschaftliche Spektrum hinausreichen, sind willkommen. Konkrete Fragen, die jedoch ebenso in andere Richtungen weisen und weitere Felder und Horizonte als die hier bereits aufgeführten eröffnen könnten, sind etwa die folgenden: Inwiefern benötigen feministische und postkoloniale Theorien im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen ein menschliches Subjekt oder zumindest dessen Potenzialität? Wäre in diesem Sinne die Abwendung von menschlichen Subjektivierungen sogar als ‘neuer weißer Humanismus’ auszuweisen? Und welche Antworten lassen sich darauf finden, dass die Fokussierung auf die Handlungsmacht menschlicher Akteur_innen im Zuge globaler ökologischer Krisen ebenso pragmatisch notwendig wie anthropozentrisch erscheint? Inwiefern bedarf es eines neuen Verständnisses der ästhetischen Erfahrung und ihrer politischen Potenziale, wenn eine sinnliche Distanzierung nicht mehr als Bedingung für (Selbst-)Reflexion und als Gegenpol zu Immersionsmomenten ins Feld geführt wird? Wer entscheidet wie über die Zugehörigkeit zu relationalen Gefügen, wenn diese die Subjekte als zentrale Entitäten ablösen? Inwiefern finden sich Vorläufer eines (medienanthropologischen) Relationalitätsdenkens bereits in modernen kritischen Theorien angelegt, wie etwa im historischen Materialismus oder der Frankfurter Schule? Wo verlaufen hier Diskontinuitätslinien?